Konzentration adé: Warum Großraumbüros uns krank machen
Ständig Lärm im Büro, null Konzentration und trotzdem tut jeder so, als wär das normal. Warum Großraumbüros uns krank machen und was endlich passieren muss.
„Offene Kommunikation. Kurze Wege. Agile Zusammenarbeit.“ - So lauten die typischen Verkaufsargumente für Großraumbüros. In der Realität sind sie oft eines: akustische Kriegsschauplätze, in denen konzentriertes Arbeiten zur täglichen Herausforderung wird. Und damit sind sie nicht einfach nur nervig, sie sind ein ernstzunehmendes Gesundheitsrisiko.
Ich weiß, wovon ich spreche. Ich habe selbst in einem Großraumbüro gearbeitet. 20 Menschen auf engem Raum: Entwickler, Admins, AdManager, Produktmanager und Sales. Besonders die letzten beiden Gruppen waren eine dauerhafte Geräuschquelle: Telefonate, spontane Besprechungen direkt am Schreibtisch, lautstarkes Brainstorming. Für jemanden, der sich auf komplexe Code-Logik konzentrieren muss, ist das die Hölle. Ich war so gestresst, dass ich ernsthaft über eine Kündigung nachgedacht habe. Nicht wegen des Jobs, sondern wegen des Lärms, durch den ich mich selbst nach der Arbeit noch gestresst fühlte.
Konzentration braucht Stille und keine Ausreden
Was viele Entscheider nicht wahrhaben wollen: Konzentration ist keine reine Willensleistung. Sie ist physiologisch messbar beeinflussbar. Schon ab etwa 50-60 dB (also ganz normale Gespräche) sinkt unsere kognitive Leistungsfähigkeit. Das belegen unter anderem Studien der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) und der Harvard Business School (Bernstein & Turban, 2018).
Menschen machen mehr Fehler, werden langsamer und ermüden schneller. Gleichzeitig steigt nachweislich der Stresspegel im Körper. Das Stresshormon Cortisol bleibt auch nach Feierabend erhöht. Wer das ignoriert, handelt grob fahrlässig.
Dabei sind die gesetzlichen Anforderungen gar nicht so lasch, wie man denkt. Die Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV) in Kombination mit den technischen Regeln für Arbeitsstätten (ASR A3.7) schreibt vor, dass der Schallpegel an Büroarbeitsplätzen 55 dB nicht überschreiten darf. Für Tätigkeiten mit hoher Konzentration gelten sogar 45 dB als Richtwert. Arbeitgeber sind verpflichtet, dafür zu sorgen; durch bauliche, technische oder organisatorische Maßnahmen. Was aber oft passiert, ist ein Placebo-Management: schicke Akustikbilder, kleine Pseudotrennwände, die eher Symbolpolitik als wirksamer Schutz sind.
Kurzüberblick: Was stört am Großraumbüro konkret?
- Dauerhafte Hintergrundgespräche und spontane Telefonate
- Fehlende visuelle und akustische Abgrenzung
- Ständige Unterbrechungen durch Kollegen oder Meetings „am Platz“
- Keine Rückzugsorte für fokussiertes Arbeiten
- Vermischung unterschiedlich lauter Tätigkeiten (z. B. IT & Vertrieb)
Diese Probleme sind keine Befindlichkeitssache, sondern systematisch messbar und sie treffen bestimmte Berufsgruppen besonders hart. Entwickler, Redakteure, Analysten, Designer - alle, die denken statt reden - leiden oft still.
Der Mythos vom agilen Großraum
Das perfide an der Situation ist: Viele dieser Büros werden mit Begriffen wie „agil“, „modern“ oder „dynamisch“ gerechtfertigt. Studien wie die von Bernstein und Turban (2018) zeigen jedoch, dass genau das Gegenteil passiert: In offenen Büros nehmen persönliche Gespräche ab, während Mails und Messenger-Nachrichten zunehmen. Menschen ziehen sich zurück, weil sie ununterbrochen gestört werden. Die vermeintliche Nähe führt also nicht zu mehr, sondern zu weniger echter Zusammenarbeit.
Produktivität, Zufriedenheit, Motivation: alles sinkt, wenn Menschen keine akustische Kontrolle über ihre Umgebung haben. Die Fraunhofer IAO hat das mehrfach untersucht: Die Bedürfnisse an akustische Umgebungen unterscheiden sich je nach Tätigkeit massiv. Eine Lösung von der Stange kann es nicht geben.
Und jetzt?
Die Lösungen liegen auf der Hand, werden aber zu selten ernst genommen. Ein paar Vorschläge, die sich auch mit wissenschaftlicher Evidenz decken:
- Zonierte Büros: akustisch getrennte Bereiche für ruhiges Arbeiten vs. Meetings
- Fester Homeoffice-Anteil, besonders für Tätigkeiten mit hoher Konzentration
- Klare Lärmregeln im Büro (z. B. keine Meetings am Platz, Headsets beim Telefonieren)
- Architektonische Maßnahmen, die nicht nur dekorativ, sondern wirksam sind
- Technisch getrennte Räume für inkompatible Rollen - etwa Vertrieb und Entwicklung
Was es braucht, ist keine teure Umgestaltung, sondern ein Umdenken. Keine Illusion von Modernität, sondern ehrliche Bürogestaltung, die der Realität gerecht wird.
Ich finde es bezeichnend, dass wir heute mehr über ergonomische Bürostühle sprechen als über psychologische Arbeitsbedingungen. Lärm ist nicht einfach eine Unannehmlichkeit. Er entwertet die Arbeit von Menschen, die ihre geistige Leistung in den Dienst des Unternehmens stellen. Er nimmt ihnen die Grundlage für gute Arbeit. Und manchmal - wie bei mir - nimmt er einem fast die Freude am Beruf.
Großraumbüros können funktionieren. Aber nicht in der Form, wie sie heute oft existieren. Wer Entwickler, Admins, Produktmanager und Vertrieb in einen Raum setzt, spart vielleicht Miete, aber zahlt mit Burnouts, Fluktuation und Fehlerquoten.
Und das ist kein Preis, den irgendjemand zahlen sollte.
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Über den Author
Christian
Ich bin Christian Seip - Softwareentwickler mit Schwerpunkt auf Web-Technologien. In den letzten Jahren war ich unter anderem als Lead Developer und Datenschutzkoordinator bei der Ströer-Gruppe tätig. Davor habe ich bei Amazon Games gearbeitet.
Ich schreibe hier, weil ich Dinge hinterfrage. Weil ich wissen will, was unter der Oberfläche steckt - technisch, gesellschaftlich und sprachlich. Und weil ich glaube, dass es nicht reicht, Dinge nur zu tun, ohne darüber zu reden.
Dieser Blog ist kein Tutorial-Archiv und keine Selbstvermarktung. Er ist mein Versuch, klare Gedanken zu formulieren und Position zu beziehen auch wenn es unbequem ist. Mal technisch, mal kritisch, mal persönlich.